Ganz salopp gesagt, hat sich die letzte Eiszeit in Norwegen so richtig gelohnt. Was wurden für großartige Landschaften gehobelt, geschliffen und ausgehöhlt. Dort, wo sich das Land mit dem Meer vereint, sind sie am eindrucksvollsten: In den tiefen Fjorden im Westen und an der Schärenküste Sørlandets, des Südlandes, wie die Norweger ihr Sonnenparadies nennen.
Die Welt der ertrunkenen Täler
Sie sind das „Markenzeichen“ Norwegens und eines der größten Naturwunder der Erde – unzählige Fjorde, die vor allem dem Westen des Landes sein unverwechselbares Gepräge geben. Vom Fylke – einer Art Bezirk – Rogaland mit seiner Hauptstadt Stavanger bis zur salzig-maritimen Atmosphäre der Klippfischstadt Kristiansund drängen die Meeresarme bis zu 200 Kilometer tief ins Landesinnere. Mitten zwischen schneebedeckten Bergen und bläulich leuchtenden Gletschern, umsäumt von herrlichen Obstwiesen. Die Superlative setzen sich unter Wasser fort: Bis zu 1,4 Kilometer tief sind die vom mächtigen Gletschereis „tiefer gelegten“ Täler. Hardangerfjord, Sognefjord und Nordfjord sind die großen Drei, die die Topografie im Westen Norwegens prägen. Mindestens ebenso berühmt aber sind der Lysefjord mit dem 600 Meter hohen Felsplateau Preikestolen sowie der Noerøyfjord und der Geiranger, die beide von der UNESCO durch die Wahl zum Weltnaturerbe die Würdigung erfahren haben, die diesen Naturwundern zusteht.
Natürlich verzaubern die hellen Sommernächte bei lauen Temperaturen auch Norwegens Fjordwelt. Doch wenn von Mitte Mai bis Mitte Juni die Schneeschmelze im Gebirge einsetzt und die Obstblüte beginnt, ist das Glück vielleicht am größten. Dann verwandeln sich die fruchtbaren Uferlandschaften von Hardanger und Sogn og Fjordane in ein großes Blütenmeer, dann stürzen die unzähligen Wasserfälle donnernd in die Tiefe. Ein Farbenmeer ganz anderer Art verspricht die Zeit ab September: Erste Nachtfröste lassen die Natur im Gebirge in den Farben des Indian Summer leuchten, während das Wasser der Fjorde die Sommerwärme noch wie ein Speicher festhält. Wer das Kräftemessen mit der Natur liebt, wird im Winter an der Küste Fjord-Norwegens sein Glück finden.
Sørlandet und Telemark: Der Süden im Norden
Sonnenwarme Felsen, die glatt wie ein Kinderpopo aus dem Wasser schauen, ein Gewirr aus Inseln und Holmen, das sich über Hunderte Kilometer schützend vor die Küste legt. Die „Weißen Städte“, allesamt traditionsreiche Hafenstädte mit ihren in leuchtendem Weiß gestrichenen Holzhäusern, stille Buchten und der Geruch von Salz und Teer: Das sind die wunderbaren Zutaten der norwegischen Riviera, des Sørlandet. Vom Ausgang des Oslofjords bis Egersund im Westen erstreckt sich dieses Paradies für alle, die das Meer lieben. Baden, Angeln, Bootfahren, Sonnen und Relaxen sind angesagt, kleine „Ausfälle“ führen in das wald- und seenreiche Hinterland.
Vorne beißt der Fisch, hinten nagt der Biber
Die Einzigartigkeit Süd-Norwegens liegt in seinen „Parallelwelten“: Gleich hinter der letzten lauschigen Meeresbucht beginnt das waldreiche, hügelige Hinterland, in dem sich Elch und Biber ‚Gute Nacht’ sagen. Große Seen und breite Flüsse laden zum Süßwasserangeln ein, die Bergregionen zu ausgedehnten Wanderungen über stille Hochebenen. Eines der schönsten Industriedenkmale Nordeuropas und Naturerlebnis gleichermaßen ist der 106 Kilometer lange Telemarkkanal, der mit Hilfe von 16 Schleusen und durch zahlreiche Seen das offene Meer mit dem waldreichen Inneren des Bezirks Telemark verbindet. Von Mai bis September verkehren historische Schiffe auf dem Kanal, der bei seiner Fertigstellung 1892 als „achtes Weltwunder“ galt. Wer mag, kann dem Wasserweg auch per Rad folgen und die Rückreise per Boot antreten.